Über die wahren Dimensionen des Cradle to Cradle-TrendsDie Medien und die Köpfe der Menschen sind voll mit apokalyptischen Sorgen über die Zukunft. Der Planet „gerät an seine Grenzen“, die Biosphäre „droht zu kippen“. Alles ist immerzu kurz vor zwölf. Die Welt scheint knapp und immer knapper – das Wasser, die Rohstoffe, die Luft zum Atmen, alles „geht uns aus“. Düstere Abrechnungen werden aufgemacht, in denen die Schuldfähigkeit des Menschen betont und gleichzeitig in Frage gestellt wird: Wir leben im Anthropozän, dem neuen prekären Menschen-Zeitalter.Eine schlimme Botschaft! Denn „der Mensch plündert den Planeten mit seiner Gier.“ Er hat einen „viel zu großen Fußabdruck“. Katastrophen werden beschworen, die eine Art pädagogischen Charakter zu haben scheinen, und uns auf ein Zeitalter des radikalen Verzichts vorbereiten sollen. Die „Natur wehrt sich gegen den Schmarotzer Mensch“.Die Cradle to Cradle-Bewegung setzt diesen Panikattacken eine praktische Antwort entgegen. Sie träumt nicht nur, sie realisiert Stück für Stück das, was man früher etwas bieder „Kreislaufwirtschaft“ genannt hätte. In einer Cradle to Cradle-Wirtschaft ist das Recyclingprinzip ins Positive gedreht: Nicht mehr die Vermeidung von Abfall, sondern die Erschließung immer neuer Quellen und Varianten für Rohstoffe und Energie prägen die Zukunft. Eine Ökonomie der Üppigkeit ist in greifbarer, praktikabler Nähe. Im provokativen Stichwort der „intelligenten Verschwendung“ wird diese Utopie deutlich.
Aber im öffentlichen Diskurs ist der Cradle to Cradle-Trend bis heute kaum angekommen. Ausgerechnet dort, wo sich die Weltretter und Ökologisten tummeln, im grün-progressiven Milieu, ist der Ansatz (zumeist) vollkommen unbekannt. Warum? Die Antwort hat zum einen mit fundamentalen Weltbildern und Ideologiemodellen zu tun. Alte religiöse Bilder haben sich auf ökologistische Denkweisen übersetzt: Motive der Schuldhaftigkeit des Menschen kommen heute im grünen Gewand daher. Damals wie heute gilt: Schuld-Deutungen sind immer auch Macht-Legitimationen.Zum anderen ist es besonders in unserem Kulturkreis sehr schwer, sich von einem industriellen Linearismus zu trennen, der immer nur von der Wiege bis zur Bahre denken kann. Wir sind tief verwoben in ein „Kuchendenken“. Die Idee der Knappheit ordnet die Welt, macht alles zu einer Verteilungsfrage. Win-loose-Logik negiert die Möglichkeit der Win-win-Spiele, die doch in Wahrheit den Fortschritt vorantreiben.
Gegenüber diesen restriktiven, ja reaktionären Denkmustern wirkt die Idee der intelligenten Verschwendung wie eine radikale Provokation – und genau das ist sie auch. Cradle to Cradle opponiert gegen die Schuld-Logik ebenso wie gegen das Greenwashing der konventionellen Industrie. Es streitet gegen den Weg des Verzichts – in diesem Sinne öffnet es viele geistige Türen und sorgt für den notwendigen Durchzug in der Zukunftsdebatte.Man kann die Cradle to Cradle-Debatte auch als einen Übergang vom grünen zum blauen Denken beschreiben: Im Ökomodernistischen Manifest, das im Jahr 2014 von 30 grünen „Dissidenten“ – Wissenschaftler, Ökonomen, Biologen, Publizisten und Forscher aus allen möglichen Bereichen – herausgegeben wurde, heißt es: „Wir nennen uns Ökopragmatisten und Ökomodernisten. Wir beschreiben unsere Vision als den Glauben und die Hoffnung daran, dass die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Menschen dazu genutzt werden können, ein gutes Anthropozän zu gestalten.“
In ihrem Text Planetary Opportunities begründen die Anthropologen und Systemforscher Ruth Defries, Erle Ellis und Stuart Chapin den „synthetisch-lösungsorientierten Ansatz des wissenschaftlichen Denkens“: „Human society has demonstrated over and over again that we find a way to adapt and solve problems, so a hard boundary doesn’t take into account our demonstrated ability to adapt. … I don’t mean to say that there’s a solution to every problem, but humans are good problem solvers and there are no absolute boundaries.” Es geht also nicht nur um ein anderes Design stofflicher Kreisläufe. Es geht um viel mehr: um ein neues Denken, eine Revolution geistiger und mentaler Prozesse, die uns in die Zukunft bringen.
Matthias Horx ist Trend- und Zukunftsforscher und Autor (u. a. „Anleitung zum Zukunftsoptimismus“ ). 1998 gründete er das Zukunftsinstitut, dass sich mit Veränderungen in der Gesellschaft auseinandersetzt und mit den Schlüssen, die sich daraus für die Zukunft ziehen lassen.Dieser Beitrag ist erstmals im Printmagazin NÄHRSTOFF #1 erschienen.
