Am 3. und 4. Dezember 2020 wird zum 13. Mal der Deutsche Nachhaltigkeitspreis vergeben ─ die größte Auszeichnung für nachhaltiges Handeln in Europa. Gemeinsam mit der Bundesregierung, dem Rat für Nachhaltige Entwicklung sowie weiteren wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen ehrt die Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis soziales und ökologisches Engagement von Unternehmen, Kommunen, Organisationen und Einzelpersonen. In insgesamt acht Kategorien wird von einer Jury und durch öffentliche Abstimmung entschieden, wer sich in besonderem Maße für Nachhaltigkeit einsetzt. Die Kategorien decken viele relevante Themenfelder ab. Von Architektur und verantwortungsvollem Design bis hin zu globalen Partnerschaften und Forschung ist alles dabei.
Mit dem Begriff der Nachhaltigkeit haben wir bei Cradle to Cradle durchaus Schwierigkeiten. Warum? Weil der Begriff heute sehr beliebig verwendet wird, man kann darunter alles und nichts fassen. Und der Begriff ist so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner im Ressourcen-, Umwelt- und Klimaschutz: Das Ziel, ein bisschen weniger schlecht zu sein, anstatt die Dinge neu zu denken und positiv für Mensch und Umwelt zu gestalten. Daher freuen wir uns umso mehr, dass im laufenden Wettbewerb des Deutschen Nachhaltigkeitspreises in der Kategorie Forschung gleich drei Teams nominiert sind, die Cradle to Cradle in unterschiedlichem Maß umsetzen und damit nicht nur klimaneutral, sondern klimapositiv sein wollen.
Bioökonomie und Cradle to Cradle
Bevor wir auf die nominierten Teams und deren Forschung eingehen, ein kurzer Ausflug zum diesjährigen Thema der Kategorie Forschung: Bioökonomie. Damit ist eine Wirtschaft gemeint, die auf bio-basierten statt auf erdöl-basierten Rohstoffen aufgebaut ist. Viele Alltagsprodukte, wie Plastik, Farben oder Textilien, bestehen heute noch überwiegend aus dem fossilen Rohstoff Erdöl. Das hat gleich zahlreiche Nachteile. Erdöl und andere fossile Rohstoffe sind endlich ─ wir spüren schon heute die globalen Auswirkungen der Knappheit. Zudem ist die Produktion erdöl-basierter Produkte, von der Förderung bis hin zur Verarbeitung und Nutzung, extrem schädlich für Mensch und Umwelt, da entlang der gesamten Produktionskette Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre emittiert wird. Und letztlich enthalten erdöl-basierte Produkte oft sogenannte Weichmacher. Die sind schädlich für die Gesundheit, aber dennoch in Kinderspielzeug, Textilien oder anderen Gegenständen, mit denen wir Körperkontakt haben, enthalten. Deshalb finden fossile Rohstoffe keinen Platz in einer Welt der Bioökonomie.
Biologische Rohstoffe wachsen im Unterschied zu Erdöl einfach nach. Sie können aus Mikroorganismen bestehen oder pflanzliche, tierische und biologische Abfallprodukte sein. Solche Rohstoffe entsprechend eigentlich genau jenen Materialien, die Cradle to Cradle meint, wenn wir vom biologischen Kreislauf sprechen. In diesem Kreislauf sollten alle Materialien zirkulieren können, die für Verschleißprodukte verwendet werden. Autoreifen, Schuhsohlen oder Lederprodukte haben Abrieb, der in die Umwelt gelangt. Bei Autoreifen ist dieser Feinstaub mittlerweile so klein, dass er sich in unseren Lungen absetzt. Daher muss dieser Abrieb kompostierbar und damit Teil des biologischen Kreislaufs sein.
In Bezug auf technische Materialien unterscheiden sich Bioökonomie und Cradle to Cradle indes. Im C2C Designkonzept sind diese Stoffe nicht per se schlecht. Wir nutzen sie nur falsch. Metalle oder Kunststoffe, die zu sogenannten Gebrauchsprodukten wie Waschmaschinen oder Fahrrädern werden, dürfen jedoch keine Schadstoffe enthalten und müssen sortenrein voneinander trennbar sein. So können sie im technischen Kreislauf zirkulieren und immer wieder verwendet werden. So bleiben Kreisläufe geschlossen, es entsteht kein Müll mehr und Ressourcen werden nicht mehr verschwendet.
Bioökonomie, wie die drei Finalist*innen zeigen werden, bewegt sich überwiegend im biologischen Kreislauf. Für den diesjährigen Nachhaltigkeitspreis im Bereich Forschung wurde nach innovativen Ideen für Herausforderungen in Städten gesucht, durch die biologische Rohstoffe intelligent genutzt werden können.
Loopsai: Künstliche Intelligenz natürlich integriert
In urbanen Gebieten sammeln sich viele Roh- und Nährstoffe auf engem Raum an. Heute funktioniert die Belieferung der Bewohner*innen mit Tonnen von Lebensmittel als Einbahnstraße. Denn Lebensmittel werden zwar in Städte gefahren. Die Reste werden aber nicht vollständig weiterverarbeitet, wie das in einer Kreislaufwirtschaft der Fall wäre. Stattdessen werden Lebensmittelreste als Müll behandelt und teilweise aufwendig entsorgt oder verbrannt. Dabei werden wichtige bio-basierte Rohstoffe, die aus diesen Lebensmittelabfällen gewonnen werden könnten, verschwendet. In Kreisläufen zu denken, ist für die meisten Unternehmen oder auch Behörden leider noch nicht alltäglich. Dadurch werden zahlreiche potenzielle Stoffkreisläufe nicht erkannt, was zur Entstehung von vermeidbarem Müll führt.
Das siebenköpfige Forschungsteam von Loopsai hat sich dieser Problematik angenommen und eine Software entwickelt, die einzelne Stoffströme mit Hilfe einer künstlichen Intelligenz vernetzt. Sie soll dabei helfen, betriebsübergreifende und wirtschaftlich sinnvolle Lösungen für das Zusammenführen von momentan noch einzeln laufenden Stoffströmen zu finden. Wer kauft welche Mengen von welchem Rohstoff ein und ist das nötig? Können stattdessen auch Abfallprodukte anderer Unternehmen verwendet werden? Die Software zeichnet ein digitales Ebenbild des Unternehmens und seiner Bedürfnisse ab. Dafür trainiert wird die künstliche Intelligenz in einem Pilotprojekt: Eine Pilzfarm, in der Speisepilze auf Kaffeesatz angebaut werden. Zwischen der Farm und ihrem digitalen Zwilling entsteht so durch Sensoren ein immer weiter lernendes Wechselspiel. Loopsai will perspektivisch Lösungsvorschläge für komplette Stoffkreisläufe in allen Wirtschaftsbereichen entwickeln. Das digitale Abbild hat noch weitere Vorteile: Anstatt Ideen direkt umsetzen zu müssen, können sie durch den digitalen Zwilling durchgerechnet und getestet werden. Somit werden Risiken minimiert und Hürden für Innovationen gesenkt. Die Software ist außerdem als Open Source konstruiert und braucht nur wenige Informationen, um loszulegen.
Waste-to-Resource-Unit: Urbane Bioökonomie zur ganzheitlichen Nutzung organischer Abfälle
Je mehr Menschen in Städten leben, desto größere Mengen an Lebensmittelmüll fallen an – in Berlin sind das täglich 2.200 Tonnen. Die zweite Finalist*innengruppe konzentriert sich mit ihrem Projekt Waste-to-Resource-Unit auf genau diese Abfälle, um biologische Rohstoffe in Städten besser zu nutzen. Bisher werden Lebensmittelabfälle größtenteils kompostiert, ohne davor hochwertige Komponenten als Rohstoffe aus den Abfällen zu gewinnen. Um dieses Problem der derzeitigen Ver- und Entsorgungsinfrastruktur zu beheben, will das Team Bio-Raffinerien in Kantinen oder großen Unternehmen platzieren. Sie trennen und säubern dort tierische und pflanzliche Lebensmittelabfälle und extrahieren einzelne Bestandteile, wie zum Beispiel Stickstoff- und Kohlenstoffverbindungen. Diese wiederum werden zur Kultivierung von Mikroalgen im Inneren der Raffinerie genutzt. Algen sind als Jod- und Vitamin B12-Quelle in weiten Teilen Asiens seit Jahrhunderten Bestandteil einer pflanzenbasierten Ernährung, gelten in anderen Teilen der Welt als “Superfood“, und sind als Bindemittel oder Stabilisator in Joghurt, Eis, Zahnpasta oder Kosmetikartikeln enthalten. Daneben kann die Raffinerie ─ je nach Art und Weise der Lebensmittelreste ─ auch Pigmente, Vitamine und Antioxidantien extrahieren. Die Waste-to-Resource-Unit ist in Form eines Containers gebaut und kann einfach zusammengesetzt werden.
Durch die direkte Verarbeitung von Lebensmittelresten am Entstehungsort werden Entsorgungsinfrastruktur und Transport gespart, neue Arbeitsplätze geschaffen und lokale Wertschöpfung gefördert. Wie auch Loopsai schließt die Waste-to-Resource-Unit Kreisläufe und sorgt dafür, dass wertvolle Rohstoffe, die bisher als Müll behandelt wurden, ihren Weg zurück in den Kreislauf finden. Und das entspricht voll dem C2C-Gedanken.
Urban Pergola: Grüne Netze für den Großstadtdschungel
Auch das dritte Forschungsteam – vier Studierende aus Bremerhaven – hat sich einer Problematik in urbanen Räumen angenommen. Durch die wachsende Bevölkerungsdichte müssen immer mehr Grünflächen für die Errichtung von Gebäuden und Straßen weichen. Durch die zunehmende Bebauung und damit einhergehende Flächenversiegelung entstehen gerade an heißen Tagen riesige Hitzeinseln. Das Team von Urban Pergola will durch begrünte Pflanzennetze für ein natürliches Verschattungssystem sorgen und gleichzeitig für ein grüneres Stadtbild. Die Strukturen aus Stahlseilen können zwischen zwei Häusern aufgehängt werden. Sie sollen so zusätzlichen Platz für Tiere und Pflanzen schaffen und als natürliche Brücken für Übergänge zwischen städtischen Grünflächen sorgen. Die Seile sind mit einer saugfähigen Filz-Beschichtung bearbeitet, die die Pflanzen vor dem Austrocknen schützt. Die Pflanzen binden CO2, reinigen so die Luft und sorgen damit auch über den Hitzeschutz hinaus für einen Mehrwert für Städter*innen. Künftig, so das Forscher*innenteam, könnten die Netze auch als Ergänzung für Urban Farming genutzt werden und so für urbane Lebensmittel sorgen.
Speziell bei C2C im Bauwesen spielt die Frage der Flächenversiegelung eine große Rolle. Als NGO weisen wir zum Beispiel immer wieder darauf hin, dass Bestandssanierungen nach C2C-Kriterien insbesondere für dicht bebaute urbane Räume eine Alternative zu Abriss und Neubau sind. Und, wenn schon Neubau und Versiegelung, dann so, dass die am Boden zerstörte Biodiversität durch begrünte Dächer oder Fassaden mindestens erhalten wird. Wenn die Filzbeschichtung der Urban Pergola rückstandslos von den Stahlseilen trennbar ist, und damit beide Materialien sortenrein wiederverwertet werden können, sind die Netze eine cradelige und flexibel einsetzbare Ergänzung zu grünen Fassaden und Dächern.
Alle drei Projekte wollen neue Lösungen für alte Probleme finden. Es ist ein wichtiges Signal, dass dabei zunehmend in Kreisläufen gedacht wird und elementare Themen wie Müll und Rohstoffe in der zukunftsgerichteten Forschung eine immer größere Rolle spielen. Aus unserer Sicht ist es also fast schon egal, wer den Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2020 in der Kategorie Forschung gewinnt. Denn wenn wir Kreisläufe schließen und Ressourcenverschwendung beendet, gewinnen wir letztlich alle.