Die Ärzte und Die Toten Hosen stellten vier Konzerte im August 2022 auf dem Flughafen Tempelhof in Berlin für ein Labor zur Verfügung. Mit unseren Co-Projektinitiatoren KKT GmbH – Kikis Kleiner Tourneeservice, Loft Concerts GmbH und Side by Side Eventsupport GmbH haben wir gemeinsam mit zahlreichen Partnern aus der Praxis möglichst klima- und ressourcenpositive Produkte, Prozesse und Innovationen umgesetzt, getestet und ihre Skalierbarkeit geprüft. Eine kleine Rückschau auf unser bisher größtes Transformationsprojekt.
Inmitten von einem Meer aus überwiegend schwarzer Kleidung liefen sie rum, die Botschafter*innen von C2C NGO, in hellblauen und -braunen T-Shirts. Mit “QR-Codes auf dem Rücken tätowiert“, wie Die Ärzte-Sänger Farin Urlaub es nannte. Die “Danke” sagten, wenn jemand Pappteller, Serviette oder Pommesgabel in die (scheinbar richtige) Tonne warf. Zuerst sorgte das noch für Verwirrung, passiert es doch selten, dass sich jemand für so eine vermeintlich einfache Aktion bedankt. Doch schnell wurde die Verwirrung aufgelöst. Die C2C-Botschafter*innen sorgten dafür, dass der “Müll” nicht Müll bleibt, sondern durch die richtige Trennung zu Nährstoff werden kann. Das umfassende Nährstoffkonzept war ein Teil des Projekts Labor Tempelhof, für das Die Ärzte und Die Toten Hosen den Projekt-Initiatoren Cradle to Cradle NGO, KKT – Kikis kleiner Tourneeservice, Loft Concerts und SBS Eventsupport vier Konzerte im August 2022 auf dem Flughafen Tempelhof in Berlin zur Verfügung gestellt haben.
Warum, wieso, weshalb?
Doch warum das Ganze? Klimawandel, Ressourcenverschwendung, Mikroplastik in den Ozeanen, etc… Alles Gründe, sich den Status Quo anzuschauen und Verbesserungsmöglichkeiten wahrzunehmen. Unsere heutige lineare Handlung- und Produktionsweise folgt dem Prinzip “take – make – waste”. Auch im Veranstaltungsbereich werden die damit verbundenen Probleme deutlich. Kultur macht uns Menschen aus, wir entwickeln uns als Menschheit durch sie weiter. Doch bei Großveranstaltungen werden immense Ressourcen verbraucht, viel davon bleibt als Müll zurück. Das schadet dem Mensch und der Umwelt. Ein Lichtblick ist das wachsende politische Bewusstsein für eine sozial-ökonomische Transformation. Und da kommt Labor Tempelhof ins Spiel.
Labor Tempelhof
Das Labor Tempelhof soll zeigen, was bereits heute alles nach Cradle to Cradle möglich ist. Und es gibt dafür kaum ein besseres Testfeld als ein Großkonzert, bei dem 60.000 Menschen zusammenkommen. Denn diese Menschen müssen anreisen, sie essen und trinken dort, gehen auf die Toilette und kaufen Merch ein – alles Bereiche, in denen versucht wurde, möglichst C2C-Innovationen umzusetzen. Das Projekt war ausdrücklich als Labor gedacht, da bereits im Vorfeld klar war, dass nicht überall ideale C2C-Lösungen umsetzbar sein würden. Wie das eben auch in der heutigen Wirtschaft und Gesellschaft noch der Fall ist. Viele getestete Innovationen waren im Kleinen gut umsetzbar, doch nicht skalierbar. Die Gründe dafür lieferten den Projekt-Initiatoren wichtige Erkenntnisse darüber, welche Rahmenbedingungen für eine echte Kreislaufwirtschaft nach C2C noch fehlen. Teil des Projekts sind daher zwei Veröffentlichungen, die dies ändern sollen: In einem Guidebook für die Veranstaltungsbranche werden im November die Ergebnisse der Wirkungsmessung aller Maßnahmen veröffentlicht. Digital und mehrsprachig, als Blaupause für Veranstaltende, die zum Austauschen, Nachahmen und Bessermachen einladen soll. Der bereits veröffentlichte Report richtet sich indes an Politik und Wirtschaft und gibt Handlungsempfehlungen für die richtigen Rahmenbedingungen für eine echte Kreislaufwirtschaft nach C2C.
Zeigen was möglich ist
Hebel, um unsere lineare Wirtschaftsweise grundlegend zu verändern, bietet ein Großkonzert genug. Insgesamt konnten wir rund 40 sogenannter Cases umsetzen, die zeigen, in welchen Bereichen C2C-Lösungen bei Veranstaltungen bereits vorhanden sind. Wo C2C-Innovationen aus technischen oder finanziellen Gründen nicht umsetzbar waren, wurde auf möglichst C2C-inspirierte oder ökologische Alternativen zurückgegriffen. So sollte sichergestellt werden, dass alles so cradelig wie möglich wird.
Zu den Cases, die Ihr vielleicht als Besucher*in schon direkt erlebt habt oder auf unseren Social Media-Kanälen gesehen habt, gehörten unter anderem die überwiegend pflanzlichen Essensoptionen, die Trockentoiletten oder die nach C2C hergestellten Merch-T-Shirts der Ärzte und Hosen. Die Cases ergaben sich aus den Bereichen, die bei einer Großveranstaltung für die Produktion relevant sind. Zu den Cluster gehören Catering & Gastro, Druck, Energie, Logistik & Mobilität, Nährstoff-Logistik, Produktion & Infrastruktur, Sanitär, Soziale Aspekte, Textil und Wasser.
Ein paar Ergebnisse dieser Maßnahmen können wir heute schon in Zahlen fassen. So haben wir beispielsweise 100 % Ökostrom via Feststrom nutzen können. Nach unserem Wissen ist das beim Labor Tempelhof erstmalig in Deutschland für ein Konzert dieser Größenordnung gelungen. Per Feststrom konnten wir Sound und Ton auf der Bühne, sowie alle Essens- und Getränkestände betreiben. Dadurch, und durch den Betrieb der Notstromaggregate durch HVO-Kraftstoff aus hydriertem Pflanzenöl statt konventionellem Diesel, konnten insgesamt ca. 1.000 t C02 eingespart werden.
Wir konnten über alle Konzerte hinweg gegenüber einem herkömmlichen Event etwa 51 % Wasser einsparen. Das hing vor allem mit den Lieferketten der C2C- und nachhaltigen Produkten zusammen, die zum Einsatz kamen. Ein großer Hebel für die Wassereinsparung war beispielsweise das überwiegend vegan/vegetarische Ernährungsangebot.
Aus 88 % aller Toiletten auf dem Feld haben wir die Kreislaufführung der Nährstoffe gewährleistet. Feste Stoffe aus den Toiletten werden zu Humus und Urin zu Phosphor verarbeitet. Beides kann entweder regulär, oder im Rahmen von Forschungsprojekten als Dünger für eine regenerative Landwirtschaft eingesetzt werden.
Rund 85 % der Besuchenden reisten mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß oder mit dem Rad an. Im Vergleich dazu reisen bei ähnlichen Veranstaltungen Studien zufolge etwa 55 % der Besuchenden mit dem Auto an. Die Anreise ist damit normalerweise der größte Treibhausgasemittent.
Crew und Bands wurden mit 100 % vegetarisch-veganem Essen versorgt. Das Ziel für die Zuschauer betrug 70 % vegetarisch-vegane Angebote, umgesetzt wurden schließlich 60 %. Im Schnitt verbraucht die vegetarisch-vegane Ernährung 50 % weniger Wasser, sowie 40 % weniger CO₂ beim Anbau von Pflanzen im Vergleich zur Tierhaltung.
Ein weiterer häufig anfallender Bereich auf Veranstaltungen sind Textilien. Im Labor Tempelhof wurden für Die Ärzte und Die Toten Hosen insgesamt 16.800 T-Shirts nach C2C-Kriterien hergestellt. Bei der Produktion entstanden ca. 70 % weniger CO₂-Emissionen als bei konventionellen Shirts. Außerdem sind sie vollkommen kreislauffähig und kompostierbar, vom Stoff bis hin zur Druckfarbe.
Neben den vollständig umgesetzten Cases konnten wir auch viele weitere Projekte anstoßen, wie zum Beispiel die Produktion einer Pommesgabel aus einer kompostierbaren Kunststoffalternative. Für die Skalierung der Gabel auf hunderttausende Stück reichte die Zeit nicht mehr aus. Doch das Projekt wird fortgeführt und wir hoffen, dass die Pommesgabeln spätestens in der nächsten Festival-Saison zur Grundausstattung von Catering-Ständen gehören.
Einen tieferen Einblick in die jeweiligen Cases und eine Auflistung aller aller Umsetzungspartner*innen könnt ihr auf unserer Projektwebseite finden.
Teamwork und Konzert
Die Umsetzung eines so riesigen Projektes kann nur durch Teamwork und mit vielen Helfer*innen gelingen. Da kamen unsere C2C Botschafter*innen ins Spiel. Aus ganz Deutschland und Österreich angereist, haben sie 3 Tage im Cradle Camp an der Landesmusikakademie in Berlin an Workshops teilgenommen. Sie haben in Deep-Dives zugehört, gelernt und sich mit den Referent*innen ausgetauscht, aber auch zusammen am Lagerfeuer musiziert, Bunte Abende gestaltet und sind als Gruppe zusammengewachsen. Das war, neben dem Informationsaustausch zu den C2C-Maßnahmen bei den Konzerten, auch das Ziel des Cradle Camps.
Der Großteil der Aktiven traf am Montag oder Dienstag früh ein und konnte sich im Bungalow-Dorf der Musikakademie einrichten. Die nächsten beiden Tage gestalteten sich aus verschiedenen Deep Dives zu einzelnen Cradle Cases, wie C2C-Bandshirts, Trockentoiletten und die Rückgewinnung von Phosphor aus Urin. Außerdem wurden Workshops angeboten, in denen die Aktiven sich gemeinsam neues Wissen zum Pitchen von Cradle to Cradle oder Aktivismus-Formen erarbeiteten. Und natürlich starteten dann die Vorbereitungen auf das Wochenende, die Konzerte und die Aufteilung der Botschafter*innen in Teams.
Es ist immer wieder schön, so viele ehrenamtlich Aktive zu sehen und sich mit ihnen auszutauschen. Die bunten Abende brachten die Gruppe aus fast 100 Leuten mehr und mehr zusammen, es wurden Gespräche über die eigene ehrenamtliche Arbeit geführt und dieser Austausch ist erfahrungsgemäß immer ein toller Motivationsschub für alle Beteiligten. Bei von Aktiven angebotenen Workshops und Formaten zu Themen wie Klamottenkonsum oder einer Brainstorming-Session zu einem C2C Regal war es wunderbar zu sehen, wie aus motivierten Ehrenamtlichen eine eingeschworene Gruppe wurde, die sich auf die Konzerte und die Gespräche mit den Besucher*innen freuten.
Am Freitagmorgen war es dann soweit und das Cradle Camp zog los zum Flughafen Tempelhof. Voller Vorfreude und gewappnet mit neuem Wissen rund um die Cradle Cases. Umso größer war die Enttäuschung auch bei den Aktiven, als das Die Ärzte-Konzert am Freitag aufgrund dicker Gewitterwolken über dem Konzertgelände abgesagt werden musste.
Neuer Tag, neue Chance
Glücklicherweise konnten die beiden folgenden Konzerte samstags und sonntags wie geplant stattfinden. Gemeinsam mit dem Konzert von Die Toten Hosen, das bereits am Wochenende vor dem Cradle Camp mit einer geringeren Zahl an Botschafter*innen stattfand, konnten unsere Ehrenamtlichen also immerhin bei drei von vier geplanten Konzerten ihr ganzes C2C-Wissen einsetzen. Am Samstag und Sonntag trafen sich alle aus dem hauptamtlichen Team der NGO und die Botschafter*innen also am Cradle Village. Dort hörten alle noch eine motivierende Ansprache von unserer Projektleiterin Jonna und unseren geschäftsführenden Vorständen Nora und Tim und stürzten sich anschließend in die Arbeit.
Zu den Aufgaben der Botschafter*innen am Samstag gehörte zunächst vor allem, die aufgebauten Nährstoffinseln nach dem Gewitter am Vortag zu checken und mit neuem Anschauungsmaterial, was genau in welche Tonne darf, zu bestücken. Um Punkt 14:00 Uhr kamen dann die ersten Fans, die sich die besten Plätze in den vorderen Konzertreihen sichern wollten. Und mit den ersten Besucher*innen auf dem Feld kamen auch schon die ersten Interessierten ins Cradle Village. Dort informierten sie sich über das Konzept der Konzerte, die einzelnen Cases, konnten bei einem Quiz ein Die Ärzte-Shirt gewinnen, an der Citizen Wall festhalten, wie für sie ein zukunftsfähiges Großkonzert aussieht – oder beim Knärzje-Stand ein mit Brotresten gebrautes Bier trinken.
Mit dem letzten Akkord am Sonntagabend endete zwar der Einsatz unserer “Botis” beim Labor Tempelhof – aber noch lange nicht das Gesamtprojekt. Denn wie es auch für Die Toten Hosen und Die Ärzte nach kurzen Pausen weiter auf Tour ging, geht es im Labor Tempelhof bald in die Umsetzung der nächsten Projektbausteine.
Ein Blick in die Zukunft
Den Konzerten und der Umsetzung der C2C-Cases gingen zwar viele Monate Arbeit voraus, aber streng genommen waren die beiden Wochenende im August erst der Auftakt des Transformationsprojekts. Als weiterer Projektbaustein wurde bereits der Report zum Projekt veröffentlicht, der Handlungsempfehlungen für die Politik für eine echte Kreislaufwirtschaft nach Cradle to Cradle enthält. In ihm haben wir gemeinsam mit dem Forschungs- und Beratungsinstitut Adelphi aufgeschrieben, welche gesetzlichen Hürden oder fehlenden Rahmenbedingungen uns bei der Umsetzung der Cases aufgefallen sind, die einer C2C-Wirtschaft noch im Wege stehen. Die Auswirkungen der einzelnen Cases auf Klima und Ressourcen haben wir gemeinsam mit der Unternehmensberatung BCG genau gemessen und tun das noch immer. Die Ergebnisse veröffentlichen wir im November als digitales, mehrsprachiges Guidebook für die Veranstaltungsbranche. Es soll eine Blaupause für alle Veranstaltenden sein, die zum Austauschen, Nachahmen und, im Idealfall, Bessermachen einlädt. Es erscheint pünktlich zum C2C Summit: Staging the Future, der am 22.11.2022 in Berlin stattfindet. Dort werden wir mit Vertreter*innen aus Politik, Wirtschaft und Veranstaltungsbranche über die Ergebnisse diskutieren und darüber, wie wir die umgesetzten Maßnahmen auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen umsetzen können. In den kommenden beiden Jahren schließen sich dann eine viermonatige Ausstellung zum Labor Tempelhof sowie eine Eventreihe mit 12 kleineren Veranstaltungen in Berlin an. Letztlich soll eine Transformationsplattform entstehen, über die sich alle vernetzen und austauschen können, die gemeinsam mit den Projekt-Initiatoren daran arbeiten wollen, wirklich etwas zu verändern.
Augen aufhalten
Wenn ihr also das nächste Mal ein Konzert, Festival, oder ein anderes Event besucht, haltet Ausschau nach Trockentoiletten oder anderen Elementen, die wir bei den Konzerten des Labor Tempelhof ausprobiert haben. Wir sind gespannt, wie schnell und breit sich dieser Ansatz bei Großveranstaltungen durchsetzt.