Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
Wenn im Zusammenhang mit C2C von „Überflussgesellschaft“ und „Unterstützungsgesellschaft“ die Rede ist, kommt mir immer wieder dieses Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer in den Sinn, das den Fluss des Wassers in einem Brunnen beschreibt, ein elegantes, erfreuliches, endloses Spiel, wie es im Sommer beispielsweise vor der Neuen Aula in Tübingen zu beobachten ist.
Das Gedicht kann auch als Allegorie eines funktionierenden Gesellschafts-, Wirtschafts-, Geld- oder Ökosystems gelesen werden. Der Wasserfluss steht in dieser Lesart für den Geld- oder Nährstofffluss, der Brunnen für die Gesellschaft oder Natur.
Wasser als Metapher für ein abstraktes Potential, das sich vielfältig in der Welt realisiert, also gewissermaßen einen Fußabdruck hinterlässt, begegnete mir zum ersten Mal im Daodejing des chinesischen Philosophen Laozi. Dort wird vor allem auf die positive, Leben hervorbringende Wirkungsweise von Wasser hingewiesen. Wollte man die C2C-Terminologie verwenden, spräche man vom „positiven Fußabdruck“ des Wassers.
Die Vorstellung dieses positiven Fußabdrucks als Verwirklichung eines den Dingen innewohnenden Potentials ist übertragbar: Wasser, Licht, Energie, technische und biologische Nährstoffe, Geld, das menschliche Leben selbst. Damit stellt sich die philosophische Kernfrage von C2C: Was ist die Rolle der Menschen auf der Erde? Mein Vorschlag lautet: Überfluss ermöglichen!
Wie designen wir ein Gesellschaftssystem, in dem weder Mangel noch Knappheit herrscht? Wie kann eine Überflussgesellschaft gelingen? Durch eine C2C-Wirtschaft, in der alle C2C-Prinzipien verwirklicht sind? Durch Effektivität und Effizienz? Durch ein Grundeinkommen? Durch einen Fließimpuls im Geldsystem? Durch biologische Landwirtschaft und Nährstoffrückgewinnung? Durch eine Lernkultur der Potentialentfaltung? Durch Gemeinschaftsbanken? Durch Bescheidenheit, Offenheit, Zufriedenheit und eine Kultur der Großzügigkeit?
Wie wird sich Überfluss in Zukunft zeigen? Auf sehr vielfältige Weise! Erneuerbare Energien werden im Überfluss vorhanden sein. Menschen, Staaten, Unternehmen und andere Wirtschaftsteilnehmer reinvestieren ihre Gewinne oder setzen sie in einer Weise ein, dass die Allgemeinheit davon einen Nutzen hat. Geld wird ausgegeben, um Menschen auf faire Weise für ihre Arbeit zu entlohnen und gute und gesunde Produkte herzustellen, anstatt unverhältnismäßiges Marketing für minderwertige Qualität zu finanzieren. Werbung läuft in Zukunft über Produktqualität, nicht über prominente Werbeträger. Städte und Schulen werden essbar, Unternehmen haben Gärtner und Imker auf den eigenen Dächern angestellt, um der Belegschaft ab und zu mit Erdbeeren, Honig oder Blumen eine Freude zu machen.
Geld bewirkt den Wandel, wird ausgegeben, verliehen oder verschenkt, wo es Nutzen stiftet. Geld auf Inseln zu verstecken und abstrakte Reichtümer als Selbstzweck anzuhäufen, wird als nicht zielführend und nicht wünschenswert überwunden werden. Alle Wirtschaftsteilnehmer werden in diesem Sinne zu Non-Profit-Organisationen. Der tatsächliche Gewinn realisiert sich nicht mehr in einem Mehr an Geld, sondern beispielsweise in einem Mehr an Humusboden oder in einem Mehr an sinnvollen Aufgaben und erfüllenden menschlichen Beziehungen.
Die kreative Vielfalt der Menschen und ihre Fähigkeit elegante Lösungen zu finden, drückt sich in ihren Betätigungen und Lebensweisen, in ihren Werten und Zielen aus: in solidarischer Landwirtschaft, in Permakultur, in Agro-Forstwirtschaft, in einer Minimalismus-Bewegung, die Raum für neuen Überfluss schafft, in Tiny Houses mit großen Gärten, in Trocken- und Trenntoiletten, in den Maximen „Nutzen statt Besitzen“ und „Qualität statt Quantität“, in Gebäuden als Rohstofflager für künftige Generationen, in Gesundheitsförderung, gesunder Ernährung, gesundem Leben, Wohnen und Arbeiten, in der würdevollen Begleitung von Alten und Kranken, die umso würdevoller werden kann, je länger der Mensch gesund und fit bleibt. Gesundheit und Vitalität schafft Möglichkeiten für Überfluss, um abzugeben und sich zu kümmern. Und schließlich, um Hundertwassers Manifest von 1979 zu zitieren, werden wir eine neue wertschätzende „Scheißkultur“ erleben: „Es gibt keine Abfälle. Abfälle existieren nicht.“
Warum also braucht es Überfluss, nicht im Sinne von Verschwendung, sondern im Sinne einer Kultur der Großzügigkeit: „Und jede nimmt und gibt zugleich.“ Ich möchte mit drei Thesen schließen:
- Überfluss nutzt dem Leben, indem er Lebensmöglichkeiten schafft.
- Überfluss verhindert ein für das Leben schädliches Übermaß, das durch Akkumulation entstehen würde.
- Überfluss ist schön und bereitet Freude, wie ein Spiel, eine Musik, ein Tanz.
Philipp Hertling, Regionalgruppe Tübingen