Dieser Text ist in leicht abgeänderter Form unter dem Titel “Wiederverwenden statt wegwerfen” als Gastkommentar in der Frankfurter Rundschau (Ausgabe 26. Mai 2020, Seite 10, sowie online) erschienen. Eine Langfassung des Textes ist hier verfügbar.
Von Nora Sophie Griefahn und Tim Janßen
Die Coronakrise als Chance zu feiern wäre zynisch. Den Neustart, den sie verursacht, nicht für die Installation eines Updates zu nutzen, wäre fahrlässig. Dieses Update ist für unser Ökosystem höchst relevant — ökosystemrelevant. Es sieht eine Wirtschaft vor, in der nichts mehr auf dem Müll landet, sondern alles von der Wiege zur Wiege geht: „Cradle to Cradle“ (C2C).
In einer solchen Welt existiert das menschengemachte Konzept „Müll“ nicht mehr. Sämtliche Produkte werden so designt, dass alle Bestandteile biologisch abbaubar sind oder sortenrein getrennt und bei gleicher Qualität endlos wiederverwertet werden können. Statt das Falsche zu reduzieren, haben wir angefangen, das Richtige zu produzieren. In dieser Welt ist der Gedanke, sich so zu verhalten, als gäbe es uns nicht — etwa „klimaneutral“ — absurd.
Was utopisch klingen mag, ist für alle anderen Lebewesen auf der Erde völlig normal. Doch auch bei uns Menschen existieren schon jetzt zehntausende Produktbeispiele, die aus gesunden und kreislauffähigen Materialien bestehen: Teppiche, die die Raumluft reinigen, trinkbares Putzmittel oder Gebäude, die mehr Energie produzieren als sie verbrauchen. Um aber die Ökosystemrelevanz des C2C-Updates aufzuzeigen, reicht schon ein einziges simples Beispiel: Sitzbezüge. Herkömmlicherweise bestehen sie aus synthetischen Fasern, die zahlreiche Schadstoffe enthalten – allen voran höchst problematische Flammschutzmittel. Sobald wir uns aufs Sofa oder ins Auto setzen, reiben wir diese Schadstoffe vom Bezug ab und atmen sie dann ein — inzwischen sind sie in Muttermilch und am Nordpol nachweisbar. Nach dem kurzen Dasein als Sitzbezug werden diese Textilien als Sondermüll verbrannt – genauso wie unzählige andere Kleidungsstücke, Taschen oder Vorhänge, die für Hautkontakt völlig ungeeignet sind.
Hier trifft ökologischer Unsinn auf ökonomischen Wahnsinn: Gewinne, die so erzielt werden, landen auf privaten Konten. Doch die ökologischen Schäden und die Verschwendung begrenzter Rohstoffe zahlen wir alle. Wäre dieser Raubbau im Preis berücksichtigt, wären solche Textilien geradezu aberwitzig teuer. Genau das ist im C2C-Update vorgesehen: Unternehmen müssen für die Umweltschäden, die sie verursachen, zur Kasse gebeten werden! Dann können Kund*innen entscheiden, ob sie realistisch-horrende Endpreise zahlen — oder ob sie lieber zu C2C-Produkten greifen, die ökologisch durchdacht und dadurch ökonomisch unschlagbar sind.
Der Abrieb von C2C-Textilien ist biologisch abbaubar, und damit übrigens auch für Hautkontakt geeignet. Beim Anbau ihrer Fasern werden Ackerböden nicht ausgelaugt, sondern aufgebaut. Textilverschnitte dienen als Torfersatz. Ihre gesamte Produktionskette ist klimapositiv und ermöglicht die endlose Wiederverwertung von Rohstoffen.
Die derzeit übliche Praxis ist das exakte Gegenteil davon: Cradle to Grave — früher oder später landet alles auf dem Müll. Das vergiftet Gewässer, Böden und Lebewesen, schafft Fluchtursachen und verschärft Generationenkonflikte. Dieses fragile System wird von der Coronakrise hart getroffen: Wertschöpfungsketten brechen zusammen, eine Rezession historischen Ausmaßes droht. Dass Unternehmen mit Liquiditätssicherungen durch eine Krise gerettet werden, die sie nicht verursacht haben, ist verständlich. Nicht verständlich hingegen sind Konjunkturprogramme für Technologien, die schon heute von gestern sind. Umweltzerstörerische Produktionsweisen dürfen nicht länger mit Steuergeldern subventioniert werden! Stattdessen müssen wir genau jetzt den Fortschrittsmotor anwerfen, indem wir ökonomische Anreize für ökologische Innovationen setzen.
Für die Installation des C2C-Updates ist der Green Deal der EU daher ein großartiges Tool. Die Summe von etwa einer Billion Euro darf dabei wirklich nur jenen Unternehmen zum ökonomischen Vorteil werden, die ökologische Vorteile schaffen. Unternehmen, die nicht mit der Zeit gehen, müssen eben mit der Zeit gehen. In einer Welt mit wachsender Bevölkerung brauchen wir nicht weniger Konsum, Technologie und Wirtschaft, sondern bessere Formen davon. Statt also darüber zu reden, was wir reduzieren wollen, sollten wir uns positive Ziele setzen: Wie können wir Lebensräume gesund und lebenswert gestalten? Welche Technologien ermöglichen uns ein positives Dasein als Nützlinge der Erde?
Irren ist menschlich; die Irrtümer unserer jetzigen Wirtschaftsweise schwimmen als Müllkontinente im Meer. Ebenso menschlich ist es aber auch, Fehler zu korrigieren. Dafür müssen wir nach dem Vorbild der Natur wirtschaften und alles in endlosen Kreisläufen zirkulieren lassen. So können wir gut leben und dabei in eine positive Zukunft schauen. Das ökosystemrelevante C2C-Update steht zur Installation bereit.
Über die Autoren:
Nora Sophie Griefahn und Tim Janßen sind Mitgründer und geschäftsführende Vorstände der spendenfinanzierten und gemeinnützigen Nichtregierungsorganisation Cradle to Cradle NGO (C2C NGO).
Bildquelle: Frankfurter Rundschau